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Tor des Géants – Ein Laufabenteuer mit Herz und Leidenschaft

Ich kam nach Courmayeur, um einen lang ersehnten Traum endlich Wirklichkeit werden zu lassen.

Der Tor des Géants – oder auf Deutsch: die Tour der Riesen – ist mehr als nur ein Rennen. Es ist ein Mythos. Jeder in der Trailrunning-Szene kennt diesen Lauf. 330 Kilometer mit über 24.000 Höhenmetern durch das italienische Aostatal – einer der härtesten und zugleich faszinierendsten Ultraläufe der Welt.

Schon bald sollte ich erfahren, dass die Veranstalter hier keine Kompromisse eingehen. Doch dazu später mehr.

Vor dem Start – Zweifel und Entschlossenheit

Ich reiste nicht perfekt vorbereitet an. Das wusste ich. Aber ich redete es mir schön – wie man das eben macht, um sich selbst Mut zuzusprechen. Natürlich, der größte Teil dieses Abenteuers findet im Kopf statt. Aber auch der Körper sollte fit sein.

Leider plagten mich Rückenschmerzen, die ich mir durch meine körperlich harte Arbeit zugezogen hatte. Und der Kopf war alles andere als frei – es gab einige Dinge, die mich beschäftigten und die ich einfach nicht abschalten konnte.

Schwierige Voraussetzungen. Aber ich wollte das Wagnis unbedingt eingehen. Mein Ziel: das Rennen in unter 100 Stunden beenden. Realistisch hatte ich mir auch 110 oder 120 Stunden vorgenommen – aber Aufgeben stand nicht zur Debatte. Diese Chance bekommt man vielleicht nur einmal im Leben.

Freunde, Vorfreude und letzte Vorbereitung

In Courmayeur treffe ich alte Bekannte aus der Ultralaufszene – Freunde vom Marathon des Sables, Everest Trail Race und Transalpine Run. Hier weiß jeder, was es bedeutet, tagelang unterwegs zu sein. Das ist kein Spaßlauf, keine „lange Wanderung“. Hier zählt jeder Schritt.

Am Abend vor dem Start bleibe ich bei meinen spanischen und brasilianischen Freunden. Wir beschließen, einen Teil des Rennens gemeinsam zu laufen. Diese Gemeinschaft tut gut – ich fühle mich sicher und getragen.

Alle Teilnehmenden stehen in einem großen Kreis, wir umarmen uns, atmen tief durch – ein stiller Moment, bevor das Unfassbare beginnt.

Später im Hotel überprüfe ich zum x-ten Mal meine Ausrüstung. Ich packe jede Menge eigene Verpflegung von Squeezy Nutrition, genügend Ersatzbatterien für meine Petzl-Stirnlampe und entscheide: In der Nacht mache ich keine Kompromisse.

In die 48-Liter-Tasche für die Life Bases – sogenannte Campo Vita – kommen Wechselkleidung, Verpflegung und alles, was mir auf den 330 Kilometern helfen könnte. Diese Camps liegen etwa alle 50 km entlang der Strecke, bieten Feldbetten und Verpflegung – sofern man im Zeitlimit bleibt.

Meine Taktik: die erste Nacht durchlaufen, frühestens nach 100 Kilometern den ersten Schlaf gönnen.

Klingt verrückt? Vielleicht. Aber das ist der Tor des Géants.

Start in Courmayeur – Gänsehaut pur

Die Wetterprognosen: miserabel. Natürlich. Immer, wenn ich ein großes Rennen starte, zieht schlechtes Wetter auf. Aber egal – das gehört dazu.

Am Start ist die Stimmung elektrisierend. Menschen jubeln, Kuhglocken läuten, Musik dröhnt durch die Straßen von Courmayeur. Ich bin nervös, aber voller Energie.

Nach den ersten Kilometern durch Courmayeur beginnt der erste Anstieg – und der Regen. Natürlich. Aber er stört mich nicht. Die Euphorie trägt mich über die ersten Berge. Ich sage mir:
„Ganz ruhig, Jens. Nicht zu schnell. Du hast noch ein paar hundert Kilometer vor dir.“

Also: essen, trinken, ruhig bleiben. Wer hier Mahlzeiten auslässt, wird das bitter bereuen.

An den Verpflegungspunkten nehme ich jede warme Suppe dankbar an. Die Pässe reichen teils über 3.000 Meter Höhe, die Luft ist dünn, der Wind eisig.

Der Trail ist felsig, technisch anspruchsvoll, oft rutschig – echte Gletscherpfade. Zum Glück habe ich meine Joe Nimble Trailrunning-Schuhe mit Megagrip-Sohle an den Füßen. Die geben Halt, wo andere wegrutschen.

Trotz meiner Erfahrung finde ich die Strecke härter als erwartet. Nebel, Schneefall, glitschige Felsen, teils mit Stahlseilen gesichert – das fordert alles. Der Wind lässt mich schnell auskühlen. Ich bleibe in Bewegung, immer weiter.

In einer Verpflegungsstation im Tal treffe ich plötzlich den Chef-Organisator. Ich frage ihn, ob die Strecke angesichts des Wetters vielleicht angepasst oder etwas tiefer gelegt wird. Er schaut mich ruhig an und sagt trocken:
„Entweder du läufst da rauf – oder du gibst auf.“
Keine Diskussion, keine Kompromisse. In diesem Moment wird mir klar: Das hier ist kein Rennen gegen andere – es ist ein Kampf gegen sich selbst.

Wenn der Körper die Kontrolle übernimmt

Ich laufe weiter. Stundenlang. Die Kälte betäubt meine Schmerzen – anfangs. Doch auf den Downhills meldet sich mein Rücken heftig zurück. Anfangs nur kurze, stechende Blitze, später wird es schlimmer.

Ich versuche, die Schritte bewusster zu setzen, weniger zu springen. Die Landschaft ist spektakulär, aber ich kann sie kaum noch genießen.

Als ich mich dem ersten Life Camp nähere, habe ich den Plan gut eingehalten – zeitlich liege ich im Soll. Doch mein Rücken verkrampft, und plötzlich spüre ich, wie Taubheit sich in meine Beine zieht. Ich kann nicht mehr richtig fühlen, wie hoch ich die Füße hebe. Ich stolpere, stürze mehrfach. Es wird gefährlich.

Meine einzigen Stützen sind meine Komperdell-Stöcke – sie tragen mich buchstäblich weiter.

Es regnet in Strömen, als ich das Life Camp erreiche. Ich will meine nassen Sachen wechseln, mich aufwärmen, weiterlaufen. Doch plötzlich merke ich: Ich kann mich kaum noch bewegen. Nicht einmal den Rucksack bekomme ich ohne Hilfe ab.

Ich bin wie versteinert. Kein Gefühl für Zeit, keinen Raum. Ich bin in einem Tunnel.

Ich versuche, etwas Warmes zu essen – aber es geht nicht. Ich schaffe es auch nicht, mich vor lauter Kälte umzuziehen. Mein Rücken? Keine Ahnung. Ich spüre nichts.

Ich gehe zum Physio, in der Hoffnung, dass er etwas lockern kann. Doch er zögert. „Ich rufe den Arzt“, sagt er. Ich lehne ab. Noch nicht. Ich denke, vielleicht hilft eine warme Dusche – die sich schnell als kaltes Wasser entpuppt. Es raubt mir den letzten Rest an Energie.

Ich schlüpfe in trockene Kleidung, muss aber von einem Zelt ins nächste springen – werde wieder nass. Verflixt. Meine zweiten Schuhe will ich noch schonen, also ziehe ich wieder die nassen an. Ich setze mich, will essen – vergeblich.

Andere Läufer, die ich unterwegs getroffen habe, sehen mich an, als wäre ich ein Geist. Ich kann kaum mehr reagieren.

Ich suche ein Feldbett, um wenigstens kurz zur Ruhe zu kommen. Doch egal, wie ich liege – nichts hilft. Jeder Versuch zu entspannen, endet in Schmerz.

Schließlich gehe ich doch zum Arzt. Er drückt auf meinen Rücken, schüttelt den Kopf und sagt:
„Normalerweise würde ein Patient bei dem Druck zucken oder schreien – aber bei dir kommt gar nichts. Nicht mal eine Träne.“
Dann sieht er mich ernst an:
„Du musst aufhören. Du machst dich kaputt.“

Ich starre ihn nur leer an, verstehe, aber akzeptiere es nicht. Ich will es nicht. Ich gehe zurück, lege mich in ein freies Bett. Überall liegen erschöpfte, frierende Läufer. Ich sage mir: Schlaf ein wenig. Dann gehst du weiter.

Ich schaffe es tatsächlich, mich wieder anzuziehen. Draußen ist es 4 Uhr morgens. Regen. Strömend. Ich stehe im Dunkeln und denke: „Nein. Das kann es nicht sein.“

Ich gehe zurück, trinke heißen Tee, dann Kaffee. Dann noch einen Versuch. Ich schalte die Stirnlampe an, will laufen – und falle hin.

Ich spüre nichts. Nur Scham. Ich knie im Matsch, schaue auf den Boden, mir wird schwindlig.

Ein Supporter sieht mich, läuft her, hilft mir auf, bringt mich zurück ins Zelt. Ich kann nicht mehr. Ich gebe auf.

Als ich am Morgen wieder zu mir komme, fühle ich mich leer – aber gleichzeitig klar. Zum ersten Mal seit Stunden kann ich einen Entschluss fassen:
DNF.

Nach dem DNF – Wenn Scheitern zu Klarheit wird

Es gibt Momente, in denen das Aufgeben keine Niederlage ist, sondern ein Zeichen von Stärke.

Ich hatte alles gegeben – körperlich, mental, emotional. Aber der Tor des Géants ist größer als jeder Plan, größer als jedes Ego.

Am Morgen nach meinem Ausstieg sitze ich in meinem Bett im Hotel, eingehüllt in eine Decke, ein heißer Kaffee in der Hand. Ich schaue auf die Berge, die ich nicht besiegt habe – und merke: Sie wollten auch nie besiegt werden.

Sie wollten mich lehren, hinzuhören, Grenzen zu akzeptieren, Demut zu üben.

Ich habe nicht gefinisht – aber ich bin um eine Erkenntnis reicher: Leidenschaft bedeutet nicht nur, bis zum Letzten zu kämpfen. Leidenschaft bedeutet auch, ehrlich zu sich selbst zu sein.

Vielleicht war das mein wichtigster Lauf bisher. Kein Sieg. Kein Podest. Aber ein ehrlicher, tiefer Blick in das, was mich antreibt: die Liebe zu den Bergen, die Freude am Draußensein – und die Neugier, was als Nächstes kommt.

Ich komme wieder.

www.wisthaler.com - Harald Wisthaler

Lord Jens Kramer

Geboren am 23. Mai 1979, wohnhaft in Steinegg (BZ) Südtirol auf 850m Meereshöhe. Glücklicher Familienvater von zwei wunderbaren Kindern.

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